Familie ist, wo wir uns wohlfühlen
Alle Jahre wieder: Die Jahreszeit der Familienfeste steht vor der Tür. Einige werden wohl quer durch die Republik fahren um ihre Verwandtschaft zu sehen, andere möchten oder können ihre biologische Familie lieber nicht besuchen. Zum Glück gibt es nicht nur jene Familie, in die wir hineingeboren wurden, sondern auch die Familie, die wir uns selbst suchen und mit der Zeit aufbauen. Abweichend von unserer genetischen Familie gibt es im Laufe unseres Lebens immer wieder Netzwerke von Menschen, denen wir uns zugehörig fühlen, teilweise sogar stärker als zu der Familie, aus der wir ursprünglich abstammen. In solchen Wahlfamilien können auch sexuelle Kontakte eine Rolle spielen, müssen es aber nicht zwangsweise. Doch wie sieht unsere Wahlfamilie in der kinky Fetisch-Welt aus? In Zusammenarbeit mit dem gay-BDSM.club-Netzwerk haben wir einmal bei unseren Lesern nachgefragt – insgesamt 28 Menschen haben an unserer Umfrage teilgenommen, rund 80 Prozent davon sind Männer und beinahe 70 Prozent beschreiben sich selbst als kinky. Jeweils rund ein Drittel unserer Teilnehmer kommt aus den drei Altersspannen 18-24 Jahre, 25-34 Jahre und über 35 Jahre.
Die Wahlfamilie ist mehrheitsfähig in der Community
Zum Thema Wahlfamilie zeigte sich, dass beinahe die Hälfte von ihnen (rund 47 %) derzeit aktuell oder in der Vergangenheit in einer Wahlfamilie gelebt haben, weitere rund 32 Prozent wünschen sich eine solche. Unsere restlichen Befragten zeigten sich unentschlossen. Diejenigen, die bereits Erfahrungen mit einer Wahlfamilie hatten, gaben an, „immer“ oder „meistens sehr glücklich“ damit gewesen zu sein.
Es gibt natürlich eine Vielzahl von Definitionen von Familie, wobei etliche die Zugehörigkeit von Eltern und Kindern in den Mittelpunkt stellen und nur wenige Familie als abstraktes Modell nicht verwandter Personen verstehen. Abstrakter gehalten kann man sagen, dass eine Wahlfamilie aus mehreren Menschen besteht, die sich einander zugehörig fühlen, regelmäßig miteinander interagieren und sich gegenseitig unterstützen, unabhängig von der situativen Sympathie. Kurz gesagt, bei einer Wahlfamilie handelt es sich gerade in der LGBTQ-Community zumeist um ein höheres Konstrukt, was mehr darstellt als eine reine Freundschaft, gegenseitigen Nutzen oder Sympathie. Wenn man sich erstmal einer Familie angeschlossen hat, so ist man dieser auch verbunden und verpflichtet. Man kann diese zwar auch wieder verlassen, aber meistens fällt das ziemlich schwer. Einzelne Mitglieder kann man sich zudem nicht aussuchen. Es ist eine Art Verpflichtung, der man sich unterordnet, auch wenn es einem gerade vielleicht nicht in den Kram passt.
Verpflichtung auf mehreren Ebenen
Häufig teilen LGBTQ-Wahlfamilien Ressourcen miteinander, übernehmen füreinander schützende oder fördernde Funktionen und stehen füreinander ein. Sie verschreiben sich quasi der Familie und somit allen Mitgliedern der Familie. Die Werte gehen ineinander über. Sie verfolgen auch prinzipiell gemeinsame Werte und Vorstellungen, müssen aber nicht im Detail der gleichen Meinung sein. Unstimmigkeiten gehören dazu und können die Familie bereichern und der Familie neue Sichtweisen und Werte geben… oder sie können auch die Familie entzweien. Somit ist eine Familie nicht ein festes Konstrukt, sondern entwickelt sich über die Zeit immer weiter. Die einzelnen Mitglieder können auch mit Nicht-Familienmitgliedern interagieren, wobei diese externen Interaktionen weniger nachhaltig zu verstehen sind, wie die Bindung in der Familie, es sei denn, es entsteht eine ebenso starke Bindung mit der externen Person, der dann ebenfalls Teil der Familie wird. Durch die hohe Verpflichtung geht man zusammen eben auch durch dick und dünn, man teilt miteinander die guten wie auch die schlechten Dinge. Dass sich eine so starke Bindung lohnt, zeigen die Ergebnisse unserer Umfrage.
Benennen, Inhalte & Gemeinsamkeiten
Oftmals geben sich Wahlfamilien in der LGBTQ-Community auch besondere Namen, das kann von „mein Rudel“ bis hin zu „House of…“ reichen. Gerne auch wird dem Begriff Familie ein erklärender Begriff vorangestellt, beispielsweise meine „Kinky-Familie“. Andere, gerne benutzte Wörter sind Poly, Rope, BDSM, Leather, Puppy oder auch Drag. Dabei wird dem Namen oftmals eine besondere Bedeutung zugeschrieben, häufig steckt jenes zentrale Element der Familie mit drinnen, um das es bei dieser Gruppe von Menschen geht. So hat die Leather-Family wahrscheinlich etwas mit Leder zu tun, die Rope-Familie mit Shibari und das Rudel wahrscheinlich etwas mit Puppys. Es gibt aber auch Namen, die sich eher um eine spezifische Person drehen, wie das “House of Spot”, wobei Spot hierbei das Familienoberhaupt ist und die Bezeichnung gleichzeitig damit eine Art von Entscheidungsstruktur offenbart und den weiteren Gestaltungsrahmen eben von Spot darstellt. Allerdings, selbst wenn es ein zentrales Thema gibt, wie bei einer Leather-Family, so muss dieses nicht immer bei allen Mitgliedern gleich stark ausgeprägt sein. Es kann über die Jahre auch komplett an Bedeutung verlieren. Der Zusammenhalt zwischen den Menschen ist das, was es besonders macht.
In unserer Umfrage wollten wir auch wissen, was die fundamentalen Gemeinsamkeiten der Wahlfamilien sind. Am häufigsten genannten Elemente waren die Polyamorie und verschiedene Kinks, wobei das “Puppy sein” mehrfach erwähnt wurde. Außerdem fragten wir nach weiteren Gemeinsamkeiten – interessanterweise wurde mehrfach dabei ein gehobener Bildungsgrad in Verbindung mit sexueller Experimentierfreudigkeit erwähnt. Es gab aber auch Häufungen von Themen wie Kuscheln, Kulturevents, gutes Essen, Natur oder andere Freizeitaktivitäten, die außerhalb des sexuellen Rahmens stattfanden. Auch gemeinsame Werte wie Toleranz, Offenheit, Ehrlichkeit, Vertrauen oder Verständnis waren zentrale Aspekte. Das Ergebnis mag mancherorts nicht überraschen, zeigt aber sehr schön auch auf, dass es in Wahlfamilien nicht nur um ein Thema geht, sondern um den Zusammenhalt in dieser Gruppe, eben wie bei einer biologischen Familie.
Eine Familie für die Ewigkeit
Eine Familie ist eigentlich für die Ewigkeit definiert. Eine Ewigkeit ist aber eine lange Zeit. Eine Familie kann sich entwickeln und verändern. Sie kann dir mehr oder weniger gefallen und du kannst dich darin wohler oder unwohler fühlen. Aber normalerweise stirbt sie nicht aus. Das heißt, man ist quasi ein Leben lang in der Familie, selbst wenn sich die Wege später trennen. Aber welche Beständigkeit haben Wahlfamilien in der LGBTQ-Community? Ein Anteil von rund 23 Prozent der Befragten lebt seit mehr als fünf Jahren in einer Wahlfamilie, gleich viele sind gerade einmal ganz frisch in eine Wahlfamilie gekommen (unter einem Jahr). Die Mehrheit von rund 54 Prozent ist im Durchschnitt bereits seit ein bis drei Jahren Teil einer Wahlfamilie. Das mag von außen auf den ersten Blick nicht lange erscheinen, bedenkt man aber, dass viele schwule Beziehungen oftmals über einen einstelligen Monatsstatus nicht hinauskommen, relativiert sich eine Kritik sogleich.
Ein Ersatz für die biologische Familie?
Teilweise sind Wahlfamilien ein Ersatz für die genetische Familie, zum Beispiel wenn man die Heimat verlassen hat oder schlicht kein gutes Verhältnis miteinander pflegt, zum Beispiel, weil das eigene Coming-Out für emotionale Risse gesorgt hat. Also nicht verwunderlich, dass gerade in der Kink- und LGBTQ-Welt Wahlfamilien ein großes Thema sind. Eine Wahlfamilie kann gerade auch jungen LGBTQ-Menschen helfen und bietet ein passendes Umfeld, in dem man sich entwickeln und entfalten kann. Da die Mitglieder die Ergebnisse einer freien Wahl sind, kann man sich mit diesen Menschen eher identifizieren, gemeinsame Interessen verbinden, offener sein, sich gegenseitig inspirieren und sich so schrittweise selbst weiterentwickeln.
In unserer Umfrage haben wir zudem gefragt, wie Ihr zu eurer biologischen Familie steht – in diesem Abschnitt haben wir nur Teilnehmer gefragt, die in einer Wahlfamilie leben. Nur jeder Vierte hat angegeben, mit seiner biologischen Familie glücklich zu sein, die Mehrheit beschrieb die Verbindung als neutral oder unglücklich. Und auch der direkte Vergleich zwischen Wahlfamilie und biologischer Familie war eher ernüchternd. Bis auf einen Befragten war für alle anderen klar: die Wahlfamilie ist für sie die einzig wahre und sie würden diese im Zweifel ihrer biologischen Familie vorziehen.
Der Aspekt der Wahl und weitere Vorteile
Auch wenn die Gemeinsamkeiten fundamental scheinen, so kommt bei der Wahlfamilie ein sehr wichtiger weiterer Aspekt hinzu: die Familienmitglieder sind nicht willkürlich zusammengewürfelt, sie wählen einander. Meistens kann ein einzelnes Mitglied nicht alle anderen Mitglieder aussuchen. In Sonderfällen mag dies zwar so sein (zum Beispiel kann dies ein Master sein, wenn er seine Sklaven und Switcher darunter bestimmt), meistens gibt es aber formelle oder informelle Prozesse, wie die anderen integriert werden, denn die bestehenden Mitglieder sind ja bereits Familie und für die Familie will man ja nur das Beste. In jedem Fall kann aber das neue Mitglied immer selbst bestimmen, ob es überhaupt Mitglied der Wahlfamilie werden möchte oder nicht.
Wieso wollen LGBTQ-Menschen Mitglied einer Wahlfamilie werden?
Für die Beantwortung dieser Fragen haben wir unsere Interviewpartner zusammen und nach Status (bereits in einer Wahlfamilie oder nicht) befragt. Einig waren sich beide Gruppen über die drei wichtigsten Aspekte, die für die Entscheidung für eine Wahlfamilie sprechen. Erstens: Der Aspekt, dass man eine Wahl hat! (23 % mit Wahlfamilie, kurz MW / 44 % ohne Wahlfamilie, kurz OW). Zweitens: Akzeptanz und Zugehörigkeit, wie man ist! (23 % MW / 33 % OW). Drittens: Klassische Familienwerte, wie Informations- und Ressourcenaustausch, Arbeitsteilung, Absicherung und Unterstützung ! (31 % MW / 11 % OW).
Es ist interessant zu sehen, dass sich beide Gruppen grundsätzlich einig darin sind, dass die Punkte „Wahl“ und „Zugehörigkeit“ unter den Top-3-Aspekten sind. Der wichtigste Punkt für diejenigen mit einer Wahlfamilie sind aber die „klassischen Familienwerte“, während dies bei denjenigen, die keine Wahlfamilie haben, relativ unbedeutend erscheint. Vielleicht mag dies auch daran liegen, dass diese Menschen klassische Familienwerte derzeit nur von ihrer leiblichen Familie kennen. Vielleicht sind deren Erfahrungen dort eher nicht so gut, weswegen sie diesem Aspekt keine hohe Bedeutung beimessen. So kann sich dies durchaus abermals ändern, wenn sie in einer Wahlfamilie sind und merken, dass klassische Familienwerte mit gewählten Menschen plötzlich wieder an Bedeutung gewinnen können.
Einigkeit herrscht dagegen abermals bei der Frage, wie wichtig gewisse Vorteile einer Wahlfamilie sind. An erster Stelle steht hier: „Die Wahlfamilie ist für einen da, wenn man sie braucht!“ Bei denjenigen ohne Wahlfamilie stimmten alle dem mit „sehr wichtig“ zu, bei den Befragten mit Wahlfamilie waren es rund 93 Prozent. Ein sehr vergleichbares Ergebnis gab es auch auf die Frage, ob die Wahlfamilie einem das „Gefühl der Zugehörigkeit“ gibt (100 % OW / 85 % MW). Ebenfalls 100 Prozent der Unerfahrenen und rund 93 Prozent derjenigen mit Erfahrungen gaben die „Hilfe bei der persönlichen Entwicklung“ als wichtigen Faktor an.
Die Frage, wie wichtig „Tipps und Informationen“ sind, wurde von der Gruppe mit Erfahrung eher gespalten beantwortet, einige fanden dies „sehr wichtig“, andere eher „geht so“. Liegt dies vielleicht daran, dass manche Wahlfamilien einfach sehr gute Informationsquellen sind und andere vielleicht eher weniger? Wie dem auch sei, jene ohne Wahlfamilie bewerten dies hingegen klar mehrheitlich (67 %) mit „wichtig“.
Die Kehrseite der Medaille?
Wo Licht ist, fällt auch Schatten. Wir haben daher auch nach der Kehrseite der Medaille gefragt. Auch wenn die meisten (33 %) keine klaren Nachteile benennen konnten oder sahen, so wurden folgende vier Punkte jeweils von rund 17 Prozent genannt: „Es fehlt ein Fundament, beziehungsweise muss man dieses erst aufbauen“, gefolgt von „Es gibt eben auch Konflikte und Streitereien“ über „Man muss viel reden und sich austauschen, was Zeit und Energie braucht“ bis hin zu „Es gibt Akzeptanzprobleme in der restlichen Gesellschaft und bei der biologischen Familie.“ Gerade die ersten drei Punkte können allerdings ehrlicherweise gesagt auch auf viele biologische Familien zutreffen. Der letzte Punkt allerdings, die gesellschaftliche Akzeptanz, ist definitiv ein Problem, dem wir uns zu häufig noch immer entgegenstellen müssen. Aber selbst, wenn eine Wahlfamilie gesellschaftlich auch einmal anecken mag, so kann man sich dieser Situation wenigstens gemeinsam stellen.
Beziehung in der Wahlfamilie erhalten
Aber wie schafft man es, die Verbindung innerhalb der Wahlfamilie aufrechtzuerhalten? Nicht sonderlich überraschend auf dem ersten Platz steht bei den meisten Befragten die Kommunikation (46 %)! Dazu zählt nicht nur das klassische Gespräch, sondern eben auch Aspekte wie Zuhören, das Ansprechen von Problemen, non-verbale Kommunikation, Gespräche über Gefühle sowie auch der verbale Austausch in der Gruppe. Ebenso wichtig dabei ist auch die gemeinsam verbrachte Zeit. Dabei ist es egal, ob ihr zusammen Sport macht, Business betreibt oder fistet. Wichtig sind der körperliche Kontakt und die Aktivität, wobei sexuelle Handlungen weit weniger häufig genannt wurden, als man vielleicht allgemein denken mag. Ebenso genannt worden sind Punkte wie Vertrauen, verzeihen können, über Fehler hinwegzusehen oder auch sich selbst reflektieren zu dürfen. Im Paar-Coaching nennt man dies auch das „Wohlwollen“, also die Bereitschaft, die eigenen Zweifel und Bedürfnisse hintenanzustellen, nicht alles auf eine Goldwaage zu legen und Dinge positiv zu interpretieren oder ins Positive zu kehren. Wenn ihr ein hohes Wohlwollen gegenüber eurem Partner oder eurer Wahlfamilie pflegt, wird die Beziehung langfristig weiter florieren. Andersrum ist Feindseligkeit ein statistisch relevanter Indikator dafür, dass eine Beziehung kriselt. Spürt ihr sie, solltet ihr also darüber reden – in der Wahlfamilie wie auch in der Partnerschaft.
Fazit
Sicher mag jeder eine eigene Meinung dazu haben, was für ihn die Familie ist und mit welchen Menschen er sich hier umgeben möchte. Für mich sollte eine Familie uns immer so akzeptieren, wie wir sind und uns dabei unterstützen, diejenigen zu werden, die wir wirklich sind. Sie sollte uns nicht verformen und verbiegen, uns nicht abschotten oder Schranken setzen, sondern uns die Kraft und Energie geben, die wir brauchen, um uns voll zu entfalten. Sie sollte aber auch da sein, wenn wir sie brauchen und uns halten und auffangen, wenn wir fallen. Wer dieses soziale Netzwerk aus Menschen gefunden hat, der sollte mit Wohlwollen stetig daran arbeiten, Probleme ansprechen und Zeit und Energie seinerseits investieren. Nur so schaffen wir auch für andere die gleichen oder sogar noch bessere Möglichkeiten, sich zu entfalten, wie wir dies für uns wünschen. (dm)




